Das Ende der Nachsichtigkeit


Neue biokybernetische Handlungsmuster für resiliente Gesellschaften

Ein tieferer Einblick in das Buch.

Veröffentlicht 2018

ISBN: 978-3-658-22228-4 
ISBN: 978-3-658-22229-1 (eBook)

Aus dem Inhalt

Vorwort

Globale Vernetzung von Konsum- und Investitionsgütern durch Gütertransporte erfolgt rund um den Erdball. Datenaustausch findet in Bruchteilen von Sekunden durch elektronische Kommunikationssysteme statt, von fast jedem Ort auf der Erde zu einem anderen, wie entfernt voneinander beide auch sein mögen. Nutzung und Umwandlung von energetischen „Treibstoffen“ mit erheblichen bio- und geologischen Folgeproblemen sind der Preis für eine kontinuierliche, oft unrealistische Steigerung von Mobilität. Globalisierende Prozesse verfolgen uns bis in den kleinsten Winkel unserer Erde – und diese ist endlich.

Die Begrenztheit unseres Planeten zeigt sich nicht nur durch seine äußere Schutzgrenze, die das Leben schützende, nur wenige Kilometer dünne Ozonschicht, sondern vielmehr auch durch die ebenso begrenzten Ressourcen im Erdinneren und in der Biosphäre.

Der ökonomische „Schnellzug“ der Globalisierung hat auf fundamentale Begrenzungen resilienter Lebensbereichen auf der Erde wenig Rücksicht genommen. Die belastenden Konsequenzen dieser einseitigen und nachhaltig fehlgeleiteten Entwicklungsstrategien spüren wir alle im wirtschaftlichen Umfeld (ungleiche Löhne für dieselbe Arbeit, Wegfall von Arbeitsplätzen trotz Milliardengewinnen der Unternehmen etc.), im naturnahen Umfeld (Bodenerosion, Monokulturen, Zerstörung von Urwäldern, die als CO2-Senke und Lebensraum für viele Lebewesen dienen, Vermüllung der Meere mit Kunststoff, die zu tödlichen Gefahren für Tiere und Pflanzen und letztlich auch für Menschen werden etc.), im sozialen Umfeld („Armut-Reichtum-Schere“ wird zunehmend größer, wenige Superreiche halten sich jeweils „ein Heer von Hunderten bis Tausenden Arbeitssklaven“, mangelhafte bis ungenügende Bildung bzw. Zugang zu Bildung etc.) und nicht zuletzt durch die Verknüpfung einer unsäglichen Allianz zwischen Politik und Wirtschaft, die zu massiven, subventionierten staatlichen Förderungen bzw. Steuerentlastungen und Bevorteilungen von in der Regel Großunternehmen führt, mit gleichzeitiger Benachteiligung des sozialen gesundheiterhaltenden Sektors einer Gesellschaft.

Eine globalisierende Wirtschaft hat unstrittig auch Wohlstand für die Menschen geschaffen. Nur ist diese Lebensverbesserung bei der Mehrzahl der Erdbevölkerung, mit gegenwärtig (April 2023) über 8,075 Milliarden, nie angekommen.

Das Ende der ökonomisch geprägten Nachsichtigkeit und der Neubeginn einer nachhaltigen, umweltverträglichen und sozialökonomischen Entwicklung ist längst überfällig. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen.

Vor mehreren Jahren verursachte der Mensch durch unverantwortliche und ökonomisch getriebene Naturzerstörung, durch Urwaldrodung das Bienensterben, einer einzelnen Bienenart in Südamerika, der großen weiblichen Orchideenbiene (Euglossa). Sie ist ein besonderes Lebewesen im globalen Naturnetzwerk, denn nur sie kann den Paranussbaum bestäuben.
Die menschlichen Eingriffe führten zum (nahezu) Totalausfall der Produktion der endemischen Pflanze. Weitflächige Rodungen führen bis heute auch dazu, dass das Aguti vom Aussterben bedroht ist, weil der südamerikanische Nager fast das einzige Tier ist, das die harte Paranusskapsel brechen und somit einzelne Samen im Boden verteilt, wodurch das Wachstum neuer Paranusspflanzen breitflächig gesichert wird. Die Folge ist, dass seit Jahren keine Paranusssamen in ihren Schalen und kugeligen Schalenhüllen im erdumspannenden Handel sind, was wir Europäer besonders in der Weihnachtszeit wahrnehmen.

Wildbienenpopulationen werden durch gestiegenen kommerziellen ökonomischen Druck, auf vielfältige Weise zu „Dienstleistungstieren“ des Menschen degradiert. Zum Beispiel tragen Waldrodungen und Monokulturen, die eine drastische Reduzierung der Biodiversität zur Folge haben, nicht nur zur Reduzierung von Bienenarten bei, sondern fördern diese durch das zunehmende Auftreten von „[…] Neonikotine(n), (das sind) hochwirksame, synthetisch hergestellte Substanzen, die in der Landwirtschaft zur Insektenvernichtung dienen“ (Guillén 2017, S. 22). Dahinter stehen globalisierende Warenströme verbunden mit dem bekannten Ziel ökonomischer Umsatz- und Gewinnmaximierung.

Durch ökonomisch getriebene, kurzsichtige fehlgeleitete Ziele erfolgen unüberlegte Eingriffe in feingesponnene Überlebensnetzwerke der Natur, bei denen sich der Mensch zu einem „Richter“ über Leben und Tod von Arten, erhebt, die ihm selbst das Überleben zu sichern helfen. Es ist ein merkwürdiges Paradoxon, um nicht zu sagen ein teuflischer Regelkreis aus global-ökonomischem Vorteil und Naturzerstörung. Vergleichbare Beispiele menschlichen Handelns ohne Augenmaß existieren im Überfluss (vgl. stellvertretend Hartmann 2015, Aus kontrollierten Raubbau – Wie Politik und Wirtschaft das Klima anheizen, Natur vernichten und Armut produzieren. Blessing, München).

Wenn wir diese weitreichende biologische Zerstörung – im übertragenen Sinn – auf unsere anthropozänen Aktivitäten menschengemachter Katastrophen – bis zu Ende gedacht – abbilden, muss jeder um seine und anderer Weiterent-wicklung höchst nachdenklich um nicht zu sagen Angst und Bange werden.

Dieser ganzheitlich kaum durchdachten Strategie menschengemachter Globalisierung stellen wir eine Strategie der Deglobalisierung gegenüber, wie sie die Prozesse der Naturentwicklung in Verbindung mit biokybernetischen stofflichen, energetischen und kommunikativen Netzwerken perfekt beherrschen. Die Weiterentwicklung aller in Netzwerken verknüpften Lebewesen, die zudem in ihren lokalen Lebensräumen hochspezialisierte „technische Leistungen“ vollbringen, ist nachhaltig gewährleistet.

Die perfekt an ihre Umwelt angepassten beziehungsweise sich anpassenden Teilnehmer des evolutionären Spiels der biologischen Entwicklung kennen keine strategischen oder operativen vorgegebenen Ziele zum Vorteil weniger und Nachteil vieler! Alle entwickeln sich in differenzierten und strukturierten Gemeinschaften, mit ihren Stärken und Schwächen, immer in Richtung nachhaltiger Überlebensfähigkeit.

Biokybernetik oder Biokybernetische Prozesse – in Verbindung mit einer Strategie der Deglobalsierung – orientieren sich an biologischen Fähigkeiten bzw. auf Technik, Wirtschaft und Gesellschaft übertragbaren Naturprinzipien, die sich über Jahrmilliarden durch schärfste Qualitätsauslesekriterien herausgestellt und den Entwicklungslinien Stabilität und Fortschritt gegeben haben. Stabilsierende „negative“ Rückkopplungsprozesse, die Nutzung vorhandener Kräfte statt neue zu generieren, ein konsequentes Kreislaufprinzip von stofflicher Verwertung oder symbiotische Lebensgemeinschaften sind einige hervorzuhebende Kennzeichen biokybernetischer deglobalisierender Prozesse und Organisationen.

Was spricht dagegen, diese langzeitbewährten, höchst effizienten Prinzipien der Natur in Prozesse unserer Technosphäre zu übertragen? Sie würden die klare Chance eröffnen, einen deutlichen, problemvorbeugenden Kontrapunkt zu setzen zu den bisherigen Strategien, die gekennzeichnet sind durch überbordende Folgeprobleme und nicht zuletzt durch einen Mangel an vernetztem Denken und Handeln.

Es sind die deglobalisierenden und trotzdem vernetzen, biokybernetischen Spielregeln der Natur, ihre Taktiken, Tricks und Raffinessen, wie es Straaß (1990) beschreibt oder wie es – an van Dieren (1985) angelehnt – die Notwendigkeit ausdrückt:

Man sollte besser mit der Natur rechnen anstatt gegen sie.

Der außerordentliche Einfluss der Politik ist national und international unstrittig. Genauso trägt aber auch die Verknüpfung von Politik und Wirtschaft unstrittig zu globalisierenden Entwicklungen und deren Folgen bei, sodass die Notwendigkeit eines Bewusstseinswandels beide zugleich betrifft.

Bleibt noch die Erkenntnis von Kurt Tucholsky (1984, S. 111), der die gesellschaftliche Situation seiner Zeit in den 1920er-Jahren in anderem Zusammenhang als heute sah, aber deren Erkenntnisgewinn daraus ebenso auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse – ohne Einschränkung – übertragbar ist:

Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.

Die Wirkmächtigkeit des Perspektivwechsels

Es ist unstrittig, dass gesellschaftliche Weiterentwicklung innerhalb eines zunehmend komplexen bzw. hochkomplexen Geflechtes aus individuellen und gesellschaftlichen Verbünden, sofern sie sich dem Ziel Nachhaltigkeit unterwerfen, angepasste Strategien des Fortschritts praktizieren müssen. Angepasste Strategien sind deshalb erforderlich, weil die Dynamik der komplexen Systeme es erfordert, sich immer wieder neu auf eine sich verändernde Umwelt einzustellen, um daran neu ausgerichtete Zielkorrekturen für den Fortschritt vornehmen zu können.

Zum Beispiel führt das industrielle Festhalten an einem Standpunkt, einem Produkt oder einem Verfahren, von dem bislang erfolgreiche Entwicklungen ausgehen, obwohl neue Trends oder Ziele bereits ihre Wirkung zeigen, letztlich zu einem Rückschritt, Stillstand oder zur Zerstörung des lokalen bzw. globalen unternehmerischen Systems. Es bedarf großer Anstrengungen und Mittel, durch zusätzliche Aufwendungen verloren gegangenes Wachstumsterrain und Fortschritt wieder aufzuholen.

Für den Kampf ums Dasein in einer globalisierenden Welt existieren unzählige Beispiele für einen Mangel an Anpassungsfähigkeit. Stellvertretend stehen hierfür das finnische Unternehmen Nokia als Hersteller und ehemaliger Marktführer für mobile Telefone, dass den Trend zu Smart Mobile Phones, wie es das Unternehmen Apple mit dem iPhone angestoßen hat, verpasste. Ein weiteres Beispiel ist das Unternehmen Kodak, das den Trend von analoger zu digitaler Bildbearbeitung regelrecht verschlief.

Metaziel: Nachhaltige Entwicklung.

Die Verwendung des Begriffs Nachhaltigkeit, den wir in diesem Kontext dem Brundtland-Report von 1997 entnehmen, der Grundlage für die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 RIO-Deklaration war,1 ist zu wertvoll, um ihn einzelnen Interessensgruppen mit falsch verstandenem Ehrgeiz und einseitigen Zielen zu überlassen. Wenn es an Nachhaltigkeit mangelt, ist kurzfristiges fehlgeleitetes Denken im Spiel.

Das Handeln wird von eingeschliffenen Routineprozessen bestimmt und setzt auf eine direkte Bedürfnisbefriedigung. Für eine nachhaltige Praxis ist dagegen über eigene Interessen hinauszublicken, immer wieder neue Standpunkte mit wechselnden Blickrichtungen in dynamischer Umwelt einzunehmen, um den Weg zum Ziel und das Ziel den Erfordernissen anzupassen – nicht umgekehrt!

Dies erfordert andere Erkenntnisleistungen. Die Komplexität der Wirklichkeit, aber auch moralische Fragen sind zu würdigen. Alle genannten und weiteren notwendigen Einsichten subsumieren sich unter dem Dach von ausreichender BILDUNG für alle Menschen – nicht für wenige Auserwählte!

Exkurs: Digitalisierung und Bildung in globalisierender und deglobalisierender Umwelt.

Wir sind in unserer dynamischen und komplexen Umwelt zunehmend konfrontiert mit einem besonderen Prozess von Bildung: der Digitalisierung von Bildung. Dieser kennt keinen Unterschied zwischen Globalisierung und Deglobalisierung, wohl aber unterschiedliche prozessuale Ausprägungen. Wobei wir wieder auf das Argument des Perspektivwechsels stoßen. Was bewirkt digitale Bildung in globalisierenden und deglobalisierenden Entwicklungen? Maximilian Probst (2015) formuliert es kurz und treffend: „Umdenken oder untergehen!“

Weiter heißt es: Zuallererst müsste man begreifen, was mit der Digitalisierung auf dem Spiel steht: Sie könnte in den Albtraum einer Steuerungs- und Kontrollfantasie münden (wie es sich durch ein drastisches Reduzieren von „Miteinander Reden“ in Präsenzveranstaltungen einerseits und einer massiven Ausbreitung von digitaler Fernbildung andererseits, an dem Autor bekannten Bildungsstätten abzeichnet). Oder sie können Impulse geben zu einer positiven, gemeinschaftlichen Selbstverkleinerung des Menschen angesichts der ökologischen Katastrophen (die maßgebend durch Prozesse der Globalisierung hervorgerufen und gesteuert werden, d. A.) (Probst 2015).