Denken in Wirkungsnetzen


Nachhaltiges Problemlösen in Politik und Gesellschaft

Ein vertiefter Einblick in das Buch.

Veröffentlicht 2013

ISBN: 978-38288-3109-4-65280-9

Aus dem Inhalt

Vorwort

Wir durchleben eine Zeit voll von getriebenen Erfolgen. Mit welcher Geschwindigkeit ein Problem gelöst wird reicht als Maß für den angeblichen Fortschritt nicht mehr aus. Sinnbildlich ist uns das gleichmäßige Vorankommen auf der rechten Autobahnspur in mehrfacher Hinsicht viel zu langsam geworden. Wir durchpflügen unsere Probleme längst auf der ersten oder zweiten oder dritten Überholspur.

Beschleunigung wird zum zweifehaften Fortschrittsmaß der Dinge.

Aus evolutionärer Sicht sind es drei fundamentale Transportsysteme oder Flüsse die jeden Fortschritt bestimmen: Energie, Material und Information. Wie wir auf einem begrenzten und hochkomplexen Lebensraum Erde damit umgehen bestimmt unsere Weiterentwicklung. Damit scheinen wir gedankenlos und fahrlässig umzugehen angesichts natürlicher, insbesondere aber sich häufender von Menschen angefachter Krisen und Katastrophen — erst recht in jüngster Zeit. Steuern wir leichtsinnig und mit gefährlicher Beschleunigung in Richtung Rand des Chaos und darüber hinaus?

Die Evolution weiß sich durch ihre ausgeprägte Fähigkeit zur Anpassung an eine sich ändernde Umwelt bestens zu helfen. Können wir das im Umkehrschluss auch von uns behaupten wobei es einerlei ist, in welchem Maß Energie, Material und Information unsere Weiterentwicklung bestimmen? Vielleich hilft eine knappe Gegenüberstellung beider Entwicklungsstrategien weiter, die beiden Fragen hinreichend zu beantworten.

Die Jahrmilliarden währende Evolution, der wir ganz nebenbei unsere Existenz verdanken, mit ihren unerreichten biodiversen „technischen“ Qualitäten nutzt eine Fortschrittsstrategie, die perfekt ist im Umgang mit natürlicher Komplexität Dynamik und Weiterentwicklung. Herausragende Kennzeichen sind selbstorganisierende individuelle Entwicklungsprozesse bei Myriaden von Organismen innerhalb einer hochgradig vernetzten Umwelt. Lokale Störungen und Katastrophen werden fehlertolerant behoben und durch geschickte Anpassungsstrategien problemvorbeugend überwunden. Im Verlauf der Zeit wurden die „technischen“ Leistungen der Organismen im Verbund mit ihrer Umwelt schrittweise verbessert. Das ist ein Grund, warum „Grenzwissenschaften“ wie die Bionik die vorteilhaften natürlichen Prinzipien für technische Produkte, Verfahren und Organisationen erforschen und anwenden.

Gegenüber evolutionären Zeiträumen ist die Zweihundert Jahre andauernde von Menschen gesteuerte Technikentwicklung noch recht jung. Auf ihre Weise hat sie ebenso enorme Fortschritte hervorgebracht die unseren Entdeckungsdrang beflügeln und die unser Leben und Arbeiten erleichtern. Dazu nutzen wir unsere erworbenen, vorausschauenden, planerischen und organisatorischen Fähigkeiten für Werkzeuge, Maschinen und technische Prozesse, mit denen wir – strategisch zielgerichtet – in kleinste und größte Dimensionen vordringen.

Dabei denken wir oft in linearen kausalen oft monokausalen Zusammenhängen. Wir nutzen erkennbare – im Sinne der Lösungsfindung – wesentliche Einflüsse auf dem Weg zum Ziel und vernachlässigen oder ignorieren zugleich scheinbar unwesentliche Belanglosigkeiten. Mit Hilfe unserer gesammelten Daten und Informationen versuchen wir unser Wissen für den Fortschritt weiter zu verbessert, was uns auf vielfache Weise gelingt.

Es wäre aber nur die halbe Wahrheit, wenn verschwiegen würde, dass dieser Fortschritt parallel auch von einem hohen Risiko begleitet wird. In der Toleranz seines Wirkens reicht es von Unachtsamkeit bei kleinen Fehlern und geringen Folgeproblemen bis zu lebens- und umweltzerstörerischen Kettenreaktionen scheinbar beherrschbarer komplexer Techniken. Wo immer wir einen Fortschritt im gesellschaftlichen Umfeld erarbeiteten bescheren wir uns – so scheint es – auch immer einen Fortschritt mit neuem Risiko.

Wenn wir zurückblicken auf die oben gestellten zwei Fragen:

1. Bewegen wir uns mit unseren Krisen in Richtung Chaos?
2. Können wir Menschen unsere Probleme ohne Rücksicht auf die Natur letztlich lösen?


dann lauten meine Antwort zur ersten Frage JA. Wir sind auf dem Weg zum Rand des Chaos. Keiner kann jedoch vorhersagen, wie weit wir noch davon entfernt sind und wie die evolutionäre Entwicklungsstrategie der Natur im Falle zunehmender Problem-Verdichtung und -Vernetzung durch unser naives Verhalten auf verursachte Krisen reagieren wird.

Was können — was sollen wir tun?

„… offen (zu) sein für Überraschungen und den Horizont nach Hinweisen abzusuchen, die auf einen kommenden Sturm hinweisen. Um vor allem Kriegsgefahren (Krisengefahren) zu vermeiden, ist es unerlässlich sie frühzeitig zu erkennen.“

Frühzeitiges Erkennen und auf Überraschungen vorbereitet sein im Kleinen wie im Großen bedeutet auch kleinste scheinbar nebensächliche Details mit in Überlegungen einzubeziehen. Hier stoßen wir bereits auf zwei fundamentale Eigenschaften des Wirkungsnetz-Denkens!

Die Antwort zur zweiten Frage lautet NEIN. Die Natur braucht uns nicht aber wir sie umso dringender für einen nachhaltigen Fortschritt unserer Entwicklung. Auch hier stellt sich die Frage: Was können – was sollen wir tun?

• Fortschrittsgeschwindigkeit bzw. Fortschrittsbeschleunigung fördern oder den Fortschritt angepasst – adaptiv – steuern bzw. regulieren?
• Fehlerfolgen beseitigen oder Fehler vorbeugen?
• reale komplexe Zusammenhänge ignorieren, vereinfachen und „passend machen“ oder sie akzeptieren und mit geeigneten •„Denk“- und Handlungs-Werkzeugen unsere Probleme lösen?

Nach Sir Karl R. Popper ist »Alles Leben Problemlösen«. Das es gelegentlich eines Umweges bedarf wenn man auf dem Weg des Problemlösens eilig zum Ziel kommen will ist als asiatische Weisheit überliefert.

In unserem Arbeitsalltag entdecken wir jin nicht wenigen Fällen vielfältige Variationen als Folge falscher Bedienung unseres »Denkwerkzeugs« Gehirns oder falscher Bewertung einer Sache oder eines Vorgangs, mit teils folgenreichen vernetzten Auswirkungen in unserem sozialen Umfeld. Beispiele dafür sind:

• Es widerspricht unserem gewohnten linearen kausalen Denken Probleme vernetzt über mehrere Vernetzungsstufen zu betrachten
• Wir halten vielfach – auch über Jahre(!) – an „eingefahrenen“ Denk- und Handlungsstrategien fest trotz zunehmender Fehlerhäufigkeit
• Angst vor neuen noch unbekannten Arbeitsstrukturen und Arbeitsabläufen
• Einigeln in bewährtem Tätigkeitsumfeld, weil man sich dort auskennt und sicher fühlt
• Erst einmal passiv verhalten (Arbeiten nach Vorschrift) in neuer Arbeitsumwelt; man könnte Fehler machen die zu unangenehmen Folgen für einen selbst führen.

Es sind späte Folgen anerzogenen (mono)kausalen Denkens, eines Denkens entlang einer „Kette“ von wenn … dann… Fragen und Antworten, die in einer zunehmend dynamischen Umwelt letztlich zu Fehlern – im schlimmsten Fall zu katastrophalen Zerstörungen führt!

Um diesen Ängsten zu begegnen und Störungen bzw. Wartungsfehler in unserem Gehirn abzubauen müssen wir uns mit der komplexen Realität so wie sie ist arrangieren und sie akzeptieren! Wir werden Probleme in einem klaren Licht sehen, Probleme in allen Einzelheiten erkennen und zugleich den Überblick über das Ganze behalten. Wenn wir gut sind, erkennen wir aus kleinsten, scheinbar nebensächlichen Einflüssen auf ein Problem den möglichen Beginn einer „Problemkaskade“ die zu größeren Problemen führen könnte. Wir lösen gesellschaftliche Probleme fehlertolerant und entwickeln Strategien für Praxislösungen mit geringen Folgenlasten. Einen politischen-gesellschaftlichen Weg in diese Richtung zeigen „Systemische Denk- und Handlungsmuster einer neuen nachhaltigen Politik im 3. Jahrtausend“.

In seinem Fazit Denken lernen und Steine wegräumen zum Kapitel Selbstbehinderung bemerkt Spitzer (Anmerkung 20, 389):

„Das systematische Denken – nicht zu verwechseln mit systemischem Denken, d. A. – lernen wir in der Schule und der Universität. Es fällt uns mitunter nicht leicht, denn – und das sollte man sich immer wieder klar machen – wir sind nicht zum logischen Schließen geboren, sondern zum Überleben.

Reduktionistisches und neuronales Denken im Vergleich.

Beispiel 1

Abb. 1 : Das ganze und seine Einzelteile

In Abb. 1 links versinnbildlicht der Becher voll von „ziehendem“ Tee unser neuronales verknüpfendes – assoziatives – Denken. Wir erfassen intuitiv mit dem Becher voll Tee den strömenden Geruch, den baldigen Geschmack während des Trinkens und den warmen – vielleicht heißen Becherrand in unseren Händen. Wir denken vielleicht über die Art der Zubereitung nach, über die Auslese der Teeblätter, ihre Herkunft, ihre Farbe, ihre Konsistenz, über den Preis. Möglicherweise denken wir auch an den Trinkgenuss in einer ruhigen entspannten Umgebung. Wir denken im Vorhinein mit allen Sinnen die uns zur Verfügung stehen an eine für uns wohlfühlende Situation des lebensnotwendigen Vorgangs Trinken.

Um wissenschaftliche Erkenntnisse des Bechers samt Inhalt zu erlangen bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn in seine Einzelteile – Wasser, Teesubstanz, Tassenform, Tassenmaterial – zu zerlegen, wie rechts in Abb. 1 gezeigt. Wir reduzieren das Ganze und betrachten die Einzelteile mit präzisen Instrumenten. Es bleibt uns jedoch verwehrt, aus den Ergebnissen der Einzelteilanalysen ein vollständiges Bild der Betrachtungsweise zusammen zu stellen, die wir mit dem Becher voll von Tee verknüpfen.

Die Probleme unserer komplexen Umwelt lassen sich eben nicht vollständig mit naturwissenschaftlichen Methoden erkennen und lösen, die lange Zeit auf der Theorie von Linearität und Determinismus basierten. Wenn wir die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse – erst recht in turbulenter Krisenzeit – verfolgen, dann stellen wir – teils mit Erschrecken – den beträchtlichen Mangel an Assoziativvermögen derjenigen fest, die Entscheidungen treffen.

Beispiel 2

Im zweiten Beispiel einer aus dem 12. Jahrhundert überlieferten Sufi-Geschichte »Die Blinden und die Sache mit dem Elefanten« lagerte ein König unweit einer Stadt dessen Einwohner alle blind waren. Der König besaß einen großen Elefanten und die Blinden waren begierig das Tier zu sehen, weshalb einige von ihnen „… wie die Narren …“ losrannten um den Elefanten zu finden.

„Nachdem sie nicht einmal wussten, was für eine Form oder welchen Umriss ein Elefant hat, betasteten sie ihn blindlings, um durch die Berührung seiner Körperteile Aufschluss zu erhalten. Jeder bildete sich ein, etwas zu wissen, weil er ein Teil fühlen konnte. Als sie zu ihren Mitbürgern zurückkehrten, wurden sie von einer aufgeregten Gruppe umringt; jeder einzelne dieser Irrenden war begierig die Wahrheit von denen zu erfahren, die selbst in die Irre gingen. Sie fragten wie der Elefant geformt sei und welche Gestalt er habe, und sie hörten sich alles an, was man ihnen erzählte.

Der Mann, der das Ohr des Elefanten betastet hatte, wurde nach dem Wesen des Elefanten gefragt. Er sagte: „Er ist eine großes, rauhes Etwas, weit und breit wie eine Decke.“
Und der den Rüssel betastet hatte, sagte: „Ich weiß was er wirklich ist! Er ist wie eine gerade hohle Röhre, furchterregend und gefährlich.“
Derjenige aber, der den Fuß und die Beine gefühlt hatte, sagte: „Er ist mächtig und fest wie eine Säule.“

Jeder hatte nur ein Teil des Ganzen betastet. Alle hatten es falsch verstanden. Keiner begriff das Ganze: Erkenntnis ist nicht die Gefährtin der Blinden.“ —… oder mancher Problemlöser in Politik und Gesellschaft möchte man augenzwinkernd hinzufügen.

Kausalverständnis und Systemverständnis.

Wer sich auf ein Kausalverständnis bei Lösungen in realer komplexer Umwelt einlässt, wird zwar kurzfristig erfolgreich sein, jedoch auf Kosten erwartbarer und unerwarteter Folgenprobleme. Denn – so die Erkenntnis aus vielen Praxisbeispielen quer durch die Gesellschaft – bleiben die Akteure weitgehend Gefangene ihres eigenen Dunstkreises.

Abb. 2 Unternehmerisches Kausal-Verständnis beim Problemlösen komplexer Probleme (nach Vester 1991, Suppl.).

Mit dieser Sicht auf Probleme nach Abb. 2 bleiben wir als Problemlöser im eigenen „Dunstkreise“ gefangen. Wir erfahren wenig über das Problemverhalten und laufen ähnlichen bzw. fortschrittlichen Lösungen der Konkurrenz hinterher. Wir versuchen durch Erkenntnisse aus Trendanalysen, Hochrechnungen, Prognosen oder vergleichbaren Instrumenten uns mehr Informationen und Wissen zu verschaffen, um die Konkurrenz einzuholen bzw. zu überholen. Dabei denken wir konstruktivistisch, produktorientiert und technokratisch — in einem Wort: deterministisch.

Abb. 3 System-Verständnis beim Problemlösen komplexer Probleme (nach Vester 1991, Suppl.).

Mit dieser Sicht auf Probleme nach Abb. 3 treten wir als Problemlöser aus dem eigenen „Dunstkreise“ heraus. Wir betrachten das Problem von einer übergeordneten Position. Wir erfahren viel über das Problemverhalten indem wir die richtigen Fragen im komplexen Umfeld nach Funktionsorientierung, Symbiosen, selbstregulierenden bzw. selbstlernenden Prozessen etc. stellen. Durch Rückkopplungsszenarien, vernetzten Subsystemanalysen, Mustererkennung u. a. m. erfassen wir den realistischen Stellenwert unseres Problems. Wir wissen auf diese Weise wie wir das Problem vorteilhaft, fehlertolerant und möglichst folgenfrei lösen. Dabei denken wir evolutionär, ganzheitlich, kybernetisch — in einem Wort: probabilistisch.