Hochachtsamkeit


Über unsere Grenze des Ressortdenkens.

Ein tieferer Einblick in das Buch.

Veröffentlicht 2016

ISBN: 978-3-658-11592-0 
ISBN: 978-3-658-22223-7 (eBook)

Aus dem Inhalt

Vorwort

Hochachtsamkeit ist als eine Orientierungshilfe für diejenigen gedacht, die an einem durchschnittlichen Tag über komplexes Hintergrundrauschen verdrossen sind und schließlich ihren vorformatierten Abwehrmechanismus bemühen: „Es hängt alles irgendwie zusammen – das ist viel zu komplex!“, oder „Ich bleibe bei meinem bewährten Vorgehen – das habe ich schon immer so gemacht“. Warum also Risiken eingehen, wenn doch alles so gut läuft? Wahrscheinlich kennen Sie dieses konfuse und planlose Gefühl, sich im Labyrinth der Undurchschaubarkeit zu verirren.

Hochachtsamkeit soll zu kritischem Denken anregen, aber auch die vertrackten Wege unserer Denkmuster aufzeigen und wohin sie führen können.

Dass „alles irgendwie zusammenhängt“, ist keine besonders helle Einsicht, sondern oft ein Verzicht auf dieselbe. Tatsächlich lässt sich kein Problem der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung (und die Sorgenliste ist lang) auf dem gewohnten Rastplatz von einfachen Vorstellungen über Ursache und Wirkung erklären, geschweige denn nachhaltig lösen. Ein wesentlicher Grund dafür ist unsere eingeengte Sicht auf linear-kausale Handlungsketten und die unumstößliche Tatsache, dass in der realen Welt immer mehrere Ursachen eine Wirkung bestimmen und umgekehrt!

Worum geht es also beim Lesen dieses Essentials?

Gewünscht ist, dass Sie ein besseres Verständnis von hochkomplexen, rückgekoppelten Systemzusammenhängen im gesellschaftlichen und politischen Umfeld westlicher Prägung verinnerlichen. Dazu will dieses Essential einen Beitrag leisten, indem es dem Zustand der Hoch-Achtsamkeit („high-mindfulness“) nachgeht und ihn auf seine Brauchbarkeit für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen befragt.

Es geht dabei immer auch um Orientierung.

Dass wir es heute hingegen mit einem Orientierungsnotstand im buchstäblichen Sinne des Wortes zu tun haben, lässt sich an vielen beobachtbaren Anzeichen von Störungen, sei es in Naturkreisläufen, sozialen Ordnungsgefügen oder globalisierten Finanzmärkten, beobachten. Wir haben somit allen Grund, uns auf die Spurensuche nach der verlorenen Hochachtsamkeit in gesellschaftlichen und politischen Systemen zu begeben. Begleiten Sie uns dabei.

Handwerkszeuge, Prüfsteine, Schauplätze und Reflexionen leiten Sie dabei kohärent durch den Text:

Handwerkszeuge sind Problemlösungswerkzeuge, die helfen, die Dinge wieder „ins Lot“ zu bringen. Wir verstehen sie als praxisfähiges Wissen, geleitet von grundlegenden theoretischen Entwürfen für neue Anwendungen, die unsere vorherrschenden Denk- und Sichtweisen in Frage stellen. Neues Denken in Zusammenhängen ist gefordert! Schon Albert Einstein erkannte: Probleme lassen sich nicht mit demselben Denkansatz lösen, durch den sie entstanden sind.

Prüfsteine sind, um das Bild des Handwerkers nicht zu verlassen, vergleichende Muster, Schablonen oder Maßstäbe, an denen man sich während der Arbeit (oder in Arbeits- und Organisationsabläufen einer Institution) orientieren kann.

Schauplätze sind Baustellen oder wie hier politische Handlungsfelder, wo das erlernte Wissen – das Handwerkszeug – zur praktischen Anwendung gelangt. Anhand von zwei Schauplätzen, die als dynamische Komplexphänomene zu interpretieren sind, soll dies verdeutlicht werden.

Reflexionen beschließen das Ende des Essentials, nicht jedoch deren Geschichte, die es in der gebotenen Kürze versucht zu erzählen. Über unsere hochkomplexen politischen Hintergründe und Zusammenhänge nachzudenken, bedeutet auch, und darin liegt die Hoffnung, sogar die Notwendigkeit, in Demokratien als „einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss“ (Negt 2010, S. 13), die Neugestaltung zum nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess mutiger als bisher zu denken. Wie sagte es Karl Marx:

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert,
es kommt aber darauf an, sie zu verändern.

Einleitung.

Einige Schlüsselbegriffe des Essentials – Komplexität, Orientierung, Hochachtsamkeit – wollen wir einleitend und in dieser beabsichtigten Reihenfolge kurz auf eine gemeinsame begriffliche Grundlage stellen.

Komplexität beschreibt nicht nur die Grundstruktur des Lebens, sondern ist auch ein schillerndes, vieldeutiges Substantiv, das in seiner Bedeutung sehr differenziert verwendet wird. So wird komplex bedeutungsgleich mit chaotisch, kompliziert oder verwirrendem Durcheinander verwendet. Oder aber man belebt das Verständnis durch den Bezug zu konkreten Dingen: Ist ein Käfer komplex1,ein Stuhl, eine Maschine? Das Grundmuster des Komplexitätsbegriffs – wie wir ihn hier im Essential verwenden – umfasst viele unterschiedliche Elemente, die differenzierte Rückkopplungsmechanismen aufweisen und nicht an Ort und Zeit gebunden sind.

Orientierung bedeutet hier im allgemeinen Wortgebrauch „Sichzurechtfinden“, sei es im eigenen Leben, in komplexen Krisensequenzen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite oder in der Schifffahrt.
Der Orientierungsprozess, wie er in komplexer Umwelt stattfinden müsste, führt durch Verknüpfungen im Dickicht zerklüfteter Wissensbestände zu neuen Sichtweisen und Erkenntnissen. Dies ist der Hinweis darauf, dass durch multikausale Zusammenhänge offengelegte Beziehungen zwischen Wissensfragmenten oftmals eine ausschlaggebende Bedeutung für den weiteren Entwicklungsprozess, die Urteilskraft und letztlich für das Wissen zum Handeln haben. Bloßes Sachwissen reicht nicht aus.

Nicht das Was zählt, sondern das Wie ist die entscheidende Komponente im Problemlösungsprozess.

Hochachtsamkeit ist inzwischen fester Bestandteil verschiedener Überlegungen einer ganzen Reihe von Disziplinen, die hier nicht näher erörtert werden. Im Kontext meditativer Praxis (Hanh 2014) psychotherapeutischer und neurobiologischer Ansätze (Kaban-Zinn 2011; Heidenreich und Michalak 2009) einerseits und sozialpsychologischer (Langer 2001, 1996) und organisationaler Konzepte (Becke et al. 2013; Weick und Sutcliffe 2003; Rochlin 1993; Roberts 1989) andererseits drängt der Begriff „Achtsamkeit“ ins öffentliche Bewusstsein.

Ursprünglich ist Achtsamkeit auf buddhistische Meditationsriten zurückzuführen.

Wir wollen auf die Bedeutung von Hochachtsamkeit in Organisationen aufmerksam machen.

Wir versuchen, durch ein besseres Verständnis von Organisationsstrukturen und darin stattfindenden Arbeitsprozessen dort alternative Orientierung zu stiften, wo wachsende Krisenfelder von dominanten Umgangsformen berichten und konfliktreiche Spannungsfelder entstehen lassen, an denen Organisationen, ihre Strukturen und Abläufe nicht gänzlich unbeteiligt sind. Achtsam bzw. hochachtsam zu sein heißt für uns, die urteilsfreie Aufmerksamkeit auf Gegenstände, Abläufe und Situationen zu lenken, diese im Entwicklungszusammenhang auf sich wirken zu lassen, um somit verborgene Verbindungen zu entdecken.

Komplexität als beständige Herausforderung.

Politik ist die List der Fähigkeit, Vereinfachungen der Komplexität zu ermöglichen, ohne ihr Schicksal an das Schicksal dieser Vereinfachungen zu hängen. (nach Dirk Becker 1994).

Wenn wir in komplexer Umwelt kluge Entscheidungen treffen wollen, brauchen wir eine weitsichtige Betrachtung (vgl. Mitchell 2008, S. 109). Dies trifft insbesondere auf unsere politisch Handelnden zu, die in dieser komplexen durch Rückkopplungen geprägten Welt agieren und auf Grundlage der besten verfügbaren Informationen weitreichende Entscheidungen treffen müssen und damit die gesellschaftliche Wirklichkeit gestalten – sei es zum Guten oder sei es zum Schlechten.

Die Komplexität wird damit zum Bezugsproblem ganzheitlichen Handelns im 21. Jahrhundert. Das schließt sowohl politisches als auch ökonomisches, soziales und ökologisches Handeln im vernetzen Verbund ein.

Warum wir erst anfangen, unsere – komplexe – Umwelt zu verstehen.

„Komplexität […] liegt nicht außerhalb unserer Verständnisfähigkeit, sondern sie erfordert eine neue Art von Verständnis. Dieses setzt voraus, dass man genauer analysiert, in welch vielfältiger Form der Kontext die Naturphänomene mitgestaltet.

Das Leben ist nicht einfach, und deshalb können auch unsere Abbildungen des Lebens, unsere Erklärungen und Theorien über seine Funktionsweise nicht einfach sein“ (Mitchell 2008, S. 22).

Diese Handlungsstrategie des „anpassungsorientierten Managements“ stellt eine

immer wiederkehrende „Strategie der Entscheidungsfindung“ dar, die durch folgende drei Punkte konkretisiert werden (a. a. O., S. 126):

1. Risiken zur Kenntnis nehmen und handhaben
2. Unbekannte Konsequenzen bekannter Faktoren weiter untersuchen
3. Robustes anpassungsorientiertes Planen und Managen sowie andere rückkopplungsgeprägte Szenarien quantitativer Entscheidungsfindungen anwenden.

Das Dilemma der Reduktion von Komplexität

Wird Komplexität als Problem wahrgenommen, so ist ein Standardreflex ihre Vereinfachung. Er ist riskant und unumgänglich zugleich. Riskant, weil mögliche wichtige Nebeneffekte ignoriert werden; unumgänglich, weil dadurch das anerzogene und dominante kausale Verständnis zum Tragen kommt. Zu Letzterem werden Politiker bei ihren oft kurzfristig durchzusetzenden Entscheidungen gedrängt.

Das Dilemma äußert sich zeitversetzt in Folgeproblemen kleiner und großer Dimensionen.

Der Kybernetiker Heinz von Foerster erkannte frühzeitig, dass die Reduktion von Komplexität an einem Ort sie an einem anderen erhöht (Abb. 1).

Abb. 1 Komplexitäts-Dilemma im konfliktreichen „Rückkopplungskreis“. PLUS-Symbol: verstärkende Wirkung von … auf …

Dass Komplexität, zum Beispiel beim Autofahren, eine subjektive Größe ist, zeigt sich bei Fahranfängern und erfahrenen Fahrern. Während die erste Gruppe sich an vielen Einzelmerkmalen orientiert, nutzen erfahrenen Autofahrern wenige übergeordnete „Superzeichen“ (Dörner 1993, S. 62).

Komplexität als Lösung begreifen.

Ein Vorschlag wäre, Komplexität nicht als Problem, wie oben geschildert, zu verstehen, sondern als Teil der Lösung wahrzunehmen! Baecker verdeutlich dies kurz gefasst an drei Punkten:

1. Menschen fällt es wesentlich leichter, aus einem komplexen Sachverhalt heraus zu einem dann darauf angewiesenen stabilen und klaren Verständnis bzw. Verhalten zu kommen, als wenn die Materie bereits überschaubar, berechenbar und damit weniger spannend wäre. Klares ist selten realistisch!

2. Die Komplexität als Lösung geht mit der Fehlerfreundlichkeit im Sinne von Christine und Ernst Ulrich von Weizsäcker (1984) einher. Die Anatomie komplexer Systeme ist zumeist lose gekoppelt, sodass Störungen nicht wie in vereinfachten hierarchischen Systemen gleich das ganze System befallen und in seiner Effizienz blockieren.

3. Komplexe Systeme sind Systeme, die auf wechselseitige Beobachtungen Wert legen, das heißt, dass sie „kontingente und riskante Entscheidungen“ treffen, während die anderen darüber wachen, was bei diesen Entscheidungen ggf. übersehen wurde.

Abb. 2 Komplexitäts-Akzeptanz im Verständnis fördernden „Rückkopplungskreis“

Was Sie aus diesem Essential mitnehmen können.

• Hochachtsam sein ist als eine Lebensaufgabe für jeden von uns zu verstehen.

• Komplexität annehmen, auch wenn es mit einem Mehr an Energie verbunden ist.

• Kurzsichtige Strategien unterliegen langfristigen Strategien zur Problemlösung in komplexer Umwelt.

• Sie durchdringen bestimmte Verhaltens- und Denkweisen in organisationalen Prozessen besser, weil Sie insbesondere über das Wie und weniger über das Was nachdenken.

• In der Politik ebenso in der Wirtschaft, im sozialen Umfeld, erst recht in der Natur führt „Ressort- oder Schubladendenken“ selten zu nach- und werthaltigen Lösungen. Problemangepasste Strategien, die konsequent die gesellschaftliche Realität vor die politische Eigenwelt stellen, wären ein Qualitätsmerkmal für Hochachtsamkeit in institutionellen und politischen Handlungsräumen.