Verpacktes Leben – verpackte Technik


Bionik der Verpackung

Ein tieferer Einblick in das Buch.

Veröffentlicht 2002

ISBN: 3-527-30443-6

Aus dem Inhalt

Einleitung

Die technische Verpackungswirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten unbestritten hervorragende Leistungen fur den Schutz und den Transport von Gutern des taglichen Bedarfs erbracht. Trotzdem kann man nicht gerade sagen, daB der moderne Mensch auf die Ergebnisse der Verpackungstechnologie uneingeschränkt stolz sein kann.

Er begegnet ihnen namlich auf Hinterhofen, wo sich allerlei moglicher Abfall tiirmt, auf den Rampen von Kaufhausern, wo aussortierte Kartons gestapelt werden, oder an den Abfallhalden der GroBstädte, uber denen Scharen hungriger Vögel kreisen.

Er wird mit ihnen aber auch in der Natur konfrontiert, wenn Mull an sonst idyllische Strande driftet oder weggeworfene Picknick-Reste das angenehme Grün des Waldes stören. Dort, in der puren Natur, fällt besonders auf, dass die Probleme mit dem Lebensweg und der Entsorgung von Verpackungen etwas Unnatürliches im wahrsten Sinne des Wortes sind.

Probleme dieser Art gibt es namlich in der Natur nicht. Auch dort werden viele und technisch viel aufwendigere Verpackungen benutzt. Aber sie fallen nicht aus dem Rahmen, erzeugen keine Abfallberge, fügen sich in den natürlichen Kreislauf ein, fallen nicht unangenehm auf, bedrohen nicht die Gesundheit und verschwinden in der Regel wieder problemlos aus der Welt.

Die Natur hat ihre Verpackungsprobleme vollständig gelöst.

Von unserer Verpackungstechnik lässt sich das offenbar nicht behaupten. Was liegt näher, als diese Erkenntnis ernst zu nehmen. Viele Menschen haben dies sicher bereits instinktiv getan, aber beim weiteren Nachdenken resigniert. Haben nicht schon viele technisch anspruchsvolle Lösungsansätze nur zu zweifelhaften Erfolgen gefuhrt? Wie sollte man dann die wesentlich komplexeren Mechanismen der Natur verstehen und sie für unsere technische Welt nutzbringend adaptieren? Jemand mußte einen ersten systematischeren Versuch machen, und wir haben uns dazu entschlossen.

Im vorliegenden Buch verfolgten wir das Ziel, Sie als Leser sowohl mit den Gesetzmäßgkeiten und Produkten heutiger Verpackungstechnologie zu konfrontieren, als Ihnen auch bewährte Verpackungslösungen der Natur vorzustellen. Man wird dabei erkennen, daB technische Lösungsansätze sehr oft auf kleine hintereinandergeschaltete Denk- und Hüber charakterisiert durch vielfach vernetzte Handlungen, die zu hochgradig problemangepaßten und ganzheitlichen Lösungen führen.

Die Natur ist realen Bedingungen unserer Welt ausgesetzt, denen sie in ihren langen Entwicklungszeiträumen nicht entfliehen kann. Demgegenüber neigen wir Menschen dazu, vielfach aus Griinden der Einfachheit, Problemlösungen in überschaubarem Rahmen zu verwirklichen.

Antriebsmotor fur dieses Vorgehen ist im wesentlichen das Bestreben, kurzfristig ökonomische Gewinne zu erzielen. Dabei übersehen wir oft die tatsächlich vorhandenen Rückkopplungswege in unserem Umfeld, die zu den erwähnten belastenden Auswirkungen führen.

Wir haben Strategien und konkrete Handlungsschritte herausgearbeitet, wie man mit Hilfe biologischer Vorbilder und bionischer Vorgehensweisen gegenwärtige technische Probleme korrigieren und zukünftige vorbeugend vermeiden kann. Sowohl die Entwicklung konkreter Verpackungsprodukte als auch die Organisation der verpackungstechnischen Ablaufe werden unter solchen Gesichtspunkten neu überdacht.

Alle diese neuen Denkmodelle und praktischen Handlungen untenverfen sich einem übergreifenden Ziel, namlich Nachhaltigkeit und ökonomische Umweltverträglichkeit Schritt fur Schritt zu verwirklichen.

Schließlich wollen wir durch das Vorstellen herausragender biologischer Verpackungsvorbilder dazu anregen, daß sich Ingenieure in Ausbildung und Beruf intensiver fur die ausgereiften Naturlösungen begeistern und systematisch lernen, durch vernetztes Denken kreativ zu sein. Dies wäre ein zukunftsweisender Beitrag in Richtung auf eine nachhaltig wirtschaftende Industriegesellschaft.

Kurzer Vergleich der Netzwerke biologischer und technischer Verpackungen.

Im komplexen Netzwerk biologischer Verpackungen ist der Wirkungszusammenhang der Ablaufe auf dern Lebensweg einer Verpackung Grundlage fur nachhaltige Verbesserungen und mehr als die Summe partieller Handlungsoptirnierungen.
Schlussfolgerung:
Biologische Verpackungen sind in kleinräumiger Umgebung systernoptimiert. Sie sind, unter Berücksichtigung vernetzter Einflüsse, durch Verpackungsinhalt und Umwelt, angepaßt an den jeweiligen Lebensprozesse. Verpackung und Verpackungslebensweg führen im Lebensraum zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung. Eine Verpackungsentsorgung im technischen Sinn kennt die Natur nicht.

Geniale Verpackungen der Natur sind umweltangepasst, form- und funktionsoptimiert ohne jeden Verpackungsabfall!

Im komplexen Netzwerk technischer Verpackungen sind die Produkte Basis einer ökonomischen, größtenteils linear ablaufenden optimierten Wertschöpfung. Es zeigt sich zunehmend, daß der Gesamtgewinn, also die Surnme dieser erwirtschafteten Werte plus die Aufwendungen fur Folgelasten (Umweltbelastung, Entsorgungprobleme), die zwangslaufig aus kausalen Handlungsverlaufen im Netzwerk entstehenden, weniger ist als die Optimierung des vernetzten verpackungstechnischen Gesamtgefüges.
Schlussfolgerung:
Technische Verpackungen werden fur bestimmte flüssige, feste oder gasformige Verpackungsinhalte mit zugehörigen Einflugmerkmalen entwickelt. Sie sind prooduktoptimiert, selten prozessoptimiert und so gut wie gar nicht ganzheitlich optimiert! Das führt im Extremfall dazu, dass Aluminium- bzw. WeiBblechdosen oder Kunststoffflaschen, die zum Teil mehrere hundert Jahre und langer haltbar sind, auf den höchsten Gipfeln des Himalaja-Gebirges, in arktischen und antarktischen Regionen, in den Fangreusen von Fischerbooten auf den Meeren oder als chemische Reste (Mikroplastik) von Verpackungsverschlüssen in den Mägen von Organismen zu finden sind, die uns Menschen als Nahrung dienen. Bekannte und unbekannte Lebensräume werden dadurch nachhaltig belastet und auch zerstört. Das gilt bis in die Gegenwart!

Die produzierte Menge von künstlichen Verpackungsmaterialien überschwemmt nicht nur unseren Planeten in ungeahnter Weise. Sie zerstört zugleich auch die Lebensgrundlage unserer und zukünftiger Generationen, wenn wir nicht umgehend bereits sind, uns mit der Natur zu arrangieren.

Die vernetzte (verpackte) Natur wird auch ohne Menschen fortbestehen – wir aber nicht ohne die Natur!

Verpacktes Leben – Verpackungsbeispiele aus der Natur.

Strategien fur Verpackungshüllen.

Im Gegensatz zu technischen Verpackungshüllen leben biologische Verpackungen. Sie entstehen mit den Geweben und Organismen, die sie verpacken sollen, wachsen mit ihnen und passen sich wechselnden Anforderungen an. Vielfach verandern sie sich dann noch, um das verpackte Produkt freizugeben. Schließlich zerfallen die Verpackungen wieder und ihre Materialien werden rezykliert.

Als Beispiel konnte man eine Blüte diskutieren, etwa die der in Abb. 1 gezeigten Königsprotea aus der siidafrikanischen Kapprovinz. Sie ist eine uralte Pflanze, ein Relikt aus der Kreidezeit. Die Art, wie sie ihre Blütenstände schützt, hat sich in nahezu unveränderter Form über 120 Millionen Jahre erhalten und wurde später von vielen jüngeren Pflanzenarten parallel entwickelt. Sehr stabile, große, bunte Blätter bilden die Blütenhülle, die sich über die Blütenstände schließen um sie zu schützen oder sie als bunte Rosette umrahmen, wenn sie sie freigeben. Wenn die Blüte stirbt, verfallen ihre Bestandteile und werden über den Boden rezykliert.

Abb. 1 Königsprotea aus der Kapprovinz (Südafrika).

Faltbare Strukturen.

Viele mechanisch belastete Membranen in der Natur sind gefaltet. Dieses verstärkende Prinzip, das auch der Mensch seit langem als Wellpappe oder Wellblech nutzt, hat die Natur zu bemerkenswerter Perfektion gefuhrt. Ein Beispiel ist das Blatt der Fächerpalme (Abb.2).

Abb. 2 Fächerpalme

Seine Faltbarkeit wird bereits genutzt, um das eng gepackte junge Blatt aus dem Sproß zu entfalten. Die Faltung verhilft also nicht nur zu dichtester Packung der jungen Blattstruktur, sondern ermöglicht auch deren mechanische Stabilisierung, wenn die Folien ausgebreitet sind. Viele Blätter in der Natur durchlaufen dieselben Schritte von der Knospe bis zum ausgebreiteten Blatt. Dieses nutzt vielfach noch die sägezahnartige oder fächerförmige Struktur, damit die mechanische Stabilitat gewährleistet ist. Dasselbe Verpackungs- und Faltprinzip nutzen auch verschiedene Käfer, wenn sie ihre Deckflugel abheben, um ihre eigentlichen gefaltenen Flügel auszubreiten. Wesentlich sind dabei Klappgelenke an der Vorderkante der Flügel.

Wehrhafte Verpackungen.

Sehr häufig schützen biologische Verpackungen die ihnen anvertraute Fracht mit wehrhaften Waffen. Es gibt zahllose Früchte und Samenbehälter, die sich mit Stacheln schützen. Sie sollen gewährleisten, daß die Samen nicht im unreifen Zustand gefressen werden. Erst wenn sie reif sind, sorgen in der Regel automatisch ausgelöste Mechanismen und Sollbruchstellen dafur, dass der Inhalt freigesetzt wird, wie zum Beispiel die Verpackung der Edelkastanie in Abb. 3 zeigt.

Abb. 3 Edelkastanie mit wehrhafter Verpackung und zeitoptimalen Öffnungsmechanismus.

Abb. 4 Die Rindenhulle des südamerikanischen Flaschenbaums rnit starken Dornenbesatz.

Stoßsicherte Verpackungen.

Wenn der junge Trieb einer KokosnuB aufeinem abgelegenen tropischen Strand die verfranste, abgewetzte auBere Faserhulle durchbricht, hat die Kokosnuss das junge Leben vielleicht schon Tausende von Kilometer weit transportiert und vor vielen todbringenden Gefahren geschützt. Da war zunächst der Fall von der hohen Palme, vielleicht in einem Sturm. Es folgte das lange Warten, bis eine hohe Flut die Nuss ins Meer spulte. Dann kamen die endlose Wanderung uber das Meer, die stetigen Angriffe durch emsige kleine Meerestiere und gelegentlich auch von grogen. Es folgte dann vielleicht ein tagelanges Bornbardement in der Brandung, zum Beispiel gegen eine Lavakuste mit messerscharfem Gestein, bis eine hohe Welle das wertvolle Paket schließlich auf einem Sandstrand absetzte.

Die technische Leistung der Kokosnussverpackung ist unvergleichlich.

Die Kokosnuss darf durch Stoss nicht aufspalten, der Lebenssaft, die Kokosmilch, nicht auslaufen oder sich mit dem Meereswasser vermischen. Was die Kokosnuss auszeichnet, sind vor allem zwei wichtige mechanische Entwicklungen. Die eine ist die stosssichernde Kokosfaserschicht aus Zellulose, die Schutz gegen das Aufbrechen bringt. Die andere ist eine hochelastische, komplexe Zwischenschicht unter der Kokosschale, die Verletzungen ausgleicht und damit den Verlust von Flüssigkeit verhindert. Die Schale der eigentlichen Kokosnuss ist druckfest. Aber die Kokosnuss besitzt auch luftgefüllte Hohlräume in der Fruchtwand, die ihr einen hohen Auftrieb im Wasser verleihen. Sie ist eine regelrechte Dauerkonserve, die mit vielfältigen Strategien ihre Fracht schützt.

Abb. 5 Querschnitt durch eine Kokosnuss

Durchscheinende, warmeisolierende Hullen.

Die Natur hat keine Materialien entwickelt, die bei der Herstellung hohere Temperaturen erfordern. Sie kennt kein Glas, das unser Leben in vieler Hinsicht erleichtert hat. Aber sie lost ahnliche Verpackungsprobleme mit transparenten Membranen, Wachs oder Chitinschichten. Urn den Treibhauseffekt unserer verglasten Wintergarten zu nutzen, muBte sie andere Wege gehen. Sie entwickelte die transparente Wärmedammung. In kalten Klimazonen, in arktischen Breiten ebenso wie im Hochgebirge, gibt es Pflanzen, deren Oberflache mit weiBlich durchscheinenden Haaren bewachsen sind. Ein Beispiel ist das Edelweiß in Abb. 6.

Abb. 6 Alpenedelweiß (Michael Schmid, CC BY-SA 2.0 at)

Die Haarschicht dieser Gebirgspflanze laBt Licht uber viele Streuprozesse durch, so dass es die Pflanzenoberfläche erreicht, wo es Wärme produziert. Die Haarschichten schließen aber viele kleine Lufträume ein, so daB die Wärme gefangen bleibt. Das gilt auch fur die Feuchtigkeit, die sich in der eingefangenen Luft anreichert und Wasserverluste in trockener Höhenluft reduziert. Der lichtdurchscheinende Haarfilm ermöglicht es der Pflanze, im kurzen Gebirgssommer den Reproduktionszyklus erfolgreich zu Ende zu führen.

Die Natur hat dieses Prinzip der transparenten Warmedammung bei vielen Gelegenheiten genutzt. Ein Beispiel ist das Weidenkatzchen, das in seinem feinen Haarflaum Licht sehr wirksam in gestaute Wärme umwandeln kann. Auf Spitzbergen ist die Weide zu einer wenige Zentimeter hohen Pflanze verkümmert, die über den Boden kriecht (Salixpolaris). Ihre Weidenkätzchen sind noch zusätzlich mit einem weißlich durchscheinenden Haarteppich überzogen, in den sie hineinragen. Es ist eine transparente Wärmeisolierung, ähnlich wie sie als durchscheinende Aerogel oder Kunststoffschicht in letzter Zeit zur Verpackung von Häusern verwendet wird.

Natur-Lehrbeispiele der genannten Art und Millionen weiterer zeigen Wege auf, wie wir mit unseren technischen Produkten und Prozessen deutlich nachhaltiger, naturverträglicher und klimaangepasster umgehen können, ohne die Zukunft unserer Kinder zu verbauen. Beginnen wir jetzt damit!